Wohnsituation in Shanghai
Shanghai
galt früher in China traditionell als eine der Städte mit großer Wohnungsnot.
Die jahrzehntelange Vernachlässigung der
Infrastruktur und des Wohnungsbaus, aber auch die schnelle Entwicklung in den
letzten Jahren haben viele Engpässe für die weitere Entwicklung der Stadt
offenkundig werden lassen.
Nach wie vor prekär ist die Versorgung mit
Wohnraum, wenn sich auch nach offiziellen Angaben der Stadtregierung die
Netto-Wohnfläche pro Kopf in der Zeit zwischen 1957 (drei Quadratmeter) und
heute (neun Quadratmeter) verdreifacht hat. Die kommunistische Stadtregierung
war keineswegs untätig gewesen, bereits seit Anfang der 1950er Jahre wurden die
Wohn- und Lebensverhältnisse in rund 300 Stadtvierteln mit unzureichendem
Standard verbessert und viele neue Wohngebiete errichtet.
Trotzdem kam der Bau von Wohnungen dem wachsenden
Bedarf aus Mangel an Kapital über Jahrzehnte nur ungenügend nach. Shanghai galt
früher in China traditionell als eine der Städte mit großer Wohnungsnot. Erst
seit Beginn der Wirtschaftsreformen fand eine Belebung des Wohnungsbaus statt:
Seit Anfang der 1980er Jahre wurde die gesamte Wohnfläche in Shanghai mehr als
verdoppelt. Die Verbesserung des Angebots an Wohnraum war verbunden mit einer
begrenzten Wohnungsreform, die unter anderem durch Förderung des
Wohnungseigentums und die Einrichtung von öffentlichen Akkumulationsfonds die
Investitionsmittel zu vergrößern suchte.
So sank der Anteil von Haushalten in akuter
Wohnungsnot, das heißt mit weniger als vier Quadratmetern Wohnfläche pro Kopf
bis heute auf knapp unter zehn Prozent aller Haushalte. In Shanghai sind es vor
allem die Altstadtviertel, die zudem von zahlreichen Industriebetrieben
durchsetzt sind, in denen immer noch sehr drangvolle Wohnbedingungen herrschen.
Da der Baugrund in den älteren Wohngegenden im Stadtzentrum sehr teuer ist, hat
die Stadtregierung den Grund und Boden teilweise an ausländische Investoren
verkauft, die Büro- Geschäfts- und Hotelkomplexe errichteten. Als Folge dieser
Praxis kam es in Verbindung mit zahlreichen Verkehrsprojekten zu großflächigen
Sanierungen in der Altstadt und Zwangsumsiedlungen von mehreren Hunderttausend
Menschen in Neubausiedlungen am Stadtrand mit unzureichender Infrastruktur.
Die genannten Wohnungsdaten beziehen sich nur auf
die Bewohner mit Hauptwohnsitz in Shanghai, die Wohnsituation der rund drei Millionen
Einwohner mit beschränkter Aufenthaltsgenehmigung ist deutlich schlechter.
Zahlreiche Migranten leben auf den Baustellen, in einfachen Betriebs-Wohnheimen
oder sie mieten sich einen Raum bei Bauern an der Peripherie der Stadt. Ein
großer Teil der temporären Einwohner lebt am Stadtrand, weil dort eher Platz
für selbstgebaute Hütten vorhanden ist und die Polizeikontrollen weniger scharf
sind. Slumähnliche Siedlungen sind seit den 1990er Jahren auch in Shanghai zu
finden.
Bevölkerungsentwicklung in Shanghai
Der
wirtschaftliche Erfolg in Shanghai übt auf Millionen Chinesen eine große
Anziehungskraft aus.
Um den Zustrom von Menschen in die Stadt
kontrollieren zu können, wird der Zuzug durch ein streng gehandhabtes Melde-
und Registrierungssystem für Einwohner mit ständigem Wohnsitz bis in die
Gegenwart kanalisiert. Die Einwohnerzahl blieb trotz der Tatsache, das Shanghai
die ökonomisch dominierende Stadt in China war, nach einem schnellen Anstieg in
den 1950er Jahren bemerkenswert konstant.
Innerhalb der heutigen Grenzen der Stadtprovinz
lebten 1952 8,5 Millionen Menschen, 1957 waren es 10,1 Millionen und am Beginn
der Wirtschaftsreformen im Jahre 1979 11,3 Millionen. Der rasche
Bevölkerungszuwachs in den 1950er Jahren hatte die unzureichende Infrastruktur,
den knappen Wohnraum und die Probleme bei der Versorgung so drängend deutlich
gemacht, das 1957 eine durchgreifende Kontrolle der Zuwanderung durchgesetzt
wurde. Wer dauerhaft in der Stadt leben wollte, benötigte eine entsprechende
Wohnberechtigung. Nur wer registriert war, konnte die Zuteilung einer Wohnung
erwarten und hatte Anspruch auf einen Arbeitsplatz oder die tägliche
Reisration.
Gegenwärtig gehört Shanghai zu den größten Städten
der Welt. Lebten 1957 noch 6,3 Millionen Menschen in der eigentlichen Stadt,
sind es heute 9,2 Millionen, in der ganzen Stadtprovinz 13,4 Millionen. In der
zuletzt genannten Zahl ist auch die Bevölkerung der ländlichen Gebiete außerhalb der Stadt mit
eingerechnet. Dabei handelt es sich um die Bewohner mit ständigem Wohnsitz.
Dazu kommen noch etwa drei Millionen Menschen die sich länger als sechs Monate
in der Stadtprovinz aufhalten und eine befristete Aufenthaltsgenehmigung
besitzen.
Das offizielle Bevölkerungswachstum der Stadtprovinz
wird zurzeit ausschließlich durch Zuwanderung gesteuert, denn der natürliche
Zuwachs der registrierten Dauereinwohner wird seit mehreren Jahren durch ein
Geburtendefizit geprägt, das bislang in allen Städten Chinas einmalig ist. Lag
das jährliche natürliche Wachstum der Einwohner mit dauerhaftem Wohnsitz 1957
noch bei etwa 40 Prozent, so sank diese Rate schnell unter zehn Prozent und
schließlich auf einen negativen Wert von -1,4 Prozent.
Ist die Zuwanderung der ständig registrirten Bewohner
nach wie vor relativ begrenzt, so bereiten der Stadt zunehmend die sogenannten
temporären Einwohner Probleme. Eine Genehmigung einer zeitlich begrenzten
Aufenthaltsgenehmigung ist im Gegensatz zur restriktiv gehandhabten Erteilung
einer dauerhaften Wohnerlaubnis leicht zu bekommen. Nur so kann der Druck der Zuwanderung
einigermaßen bewältigt werden, denn die größte Metropolregion Chinas absorbiert
wie keine andere im Land Menschen aus einem weiten Hinterland. Deren Anzahl hat
sich seit 1990 mehr als verdoppelt. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der Stadtprovinz
beträgt rund 20 Prozent, wobei eine Dunkelziffer von erheblicher Größenordnung
vorhanden ist.
Etwa 80 Prozent dieser Migranten sind fühere Bauern
aus den ländlichen Regionen Chinas, drei Viertel von ihnen aus den Nachbarprovinzen
Anhui, Jiangsu und Zhejiang, die auf der Suche nach einer Arbeitsstelle in die
Metropole ziehen. Sie arbeiten täglich bis zu 16 Stunden, viele auf den
unzähligen Baustellen der Stadt, um zu überleben und Geld für die Familie zu
Hause zu sparen.
Ihre Bedeutung wird die Wirtschaft und das Leben in Shanghai wird unterschiedlich
beurteilt. Einerseits sind die Zuwanderer fast unentbehrlich als Bauarbeiter,
Handwerker, Kleinhändler oder Arbeiter bei der Straßenreinigung und in den
Textilfabriken, andererseits wird ihr Druck auf den Wohnungsmarkt, die
Infrastruktur und ihr Anteil an kriminellen Delikten in der Stadt mit Sorge
betrachtet.
Die gegenwärtig 9,2 Millionen Bewohner mit
dauerhaftem Wohnsitz in Shanghai leben auf einer Fläche von 550
Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte beträgt 16.843 Einwohner je
Quadratkilometer. In Berlin sind es zum Vergleich 3.800.
In den ländlichen Regionen außerhalb der Stadt
leben 4,1 Millionen Menschen mit Hauptwohnsitz in der Stadtprovinz auf einer
Fläche von 5.790,5 Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte dort beträgt 707 Einwohner
je Quadratkilometer. Die 13,4 Millionen registrierten Dauereinwohner der Stadtprovinz
beziehungsweise Metropolregion leben auf einer Fläche von 6.340,5
Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte beträgt 2.106 Einwohner je
Quadratkilometer.
Entwicklungszone
Pudong
Die Entwicklungszone Pudong im Osten
Shanghais wurde am 18. April 1990 offiziell eröffnet, um den Prozess der
Reform- und Öffnungspolitik zu beschleunigen.
Wo vor 20 Jahren nichts außer Ackerland war, ragen
heute eindrückliche Wolkenkratzer in den Himmel. Das moderne Pudong gilt heute
als Wirtschaftsmotor Chinas und als Vorbild der Reform- und Öffnungspolitik. In
den folgenden Minuten schauen wir uns diese aufblühende Entwicklungszone etwas
genauer an.
Die Entwicklungszone Pudong erstreckt sich über
eine Fläche von 1.210 Quadratkilometer im Osten von Shanghai. Sie wird von
etwas über vier Millionen Menschen oder rund 20 Prozent der Shanghaier Bevölkerung bewohnt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Pudong
stieg von sechs Milliarden Yuan RMB im Jahr 1990 auf über 400 Milliarden Yuan
RMB im Jahr 2009. Im selben Zeitraum erhöhte sich Pudongs Finanzergebnis von
1,1 Milliarden Yuan RMB auf 135,6 Milliarden Yuan RMB.
Die Finanz- und Handelszone Lujiazui
veranschaulicht die Veränderung von Pudong sehr gut. Lujiazui ist die erste
staatliche Finanz-Entwicklungszone in China.
Heutzutage ragen in Lujiazui in Pudong zahlreiche Wolkenkratzer
wie das Shanghai World Financial Center mit einer Höhe von 492 Metern oder der
420 Meter hohe Jinmao-Tower in den Himmel. Hunderte Finanzunternehmen aus dem
In- und Ausland haben sich hier niedergelassen. Lujiazui wird daher oft auch
als „Finanzwald" bezeichnet.
In ihrer 20-jährigen Entwicklung hat die Pudonger Verwaltung
großen Wert auf die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur gelegt. Vor allem der
öffentliche Dienstleistungssektor wurde stark gefördert. Auch das Konzept der
nachhaltigen Entwicklung wurde bei der Entwicklung von Pudong miteinbezogen.
Im Jahr 2009 betrug der Anteil des tertiären
Sektors in Pudong über 50 Prozent. Die Investitionen in die wissenschaftliche
Forschung und Entwicklung machten drei Prozent von Pudongs BIP aus.
Der Zhangjiang High-Tech-Park wurde im Juli 1992
gegründet und gehört zu den wichtigsten High-Tech-Zonen in Pudong. Im Park sind
zahlreiche internationale Unternehmen angesiedelt, die integrierte
Schaltkreise, Biopharmazeutika oder Software herstellen. Allein im Jahr 2009
betrug der Gesamtumsatz des Zhangjiang High-Tech-Parks über 100 Milliarden Yuan
RMB.
Wie überall auf der Welt heißt auch in Pudong die
neue Zauberformel „Wirtschaft mit niedrigem CO2-Ausstoß". Im
Lingang-Industriepark wurde diese Formel bereits umgesetzt. Hier werden seit
kurzem schwere umweltfreundliche Anlagen, etwa für die Nutzung von Windenergie,
produziert. Bekannte Hersteller von Windenergie-Anlagen wie das deutsche
Unternehmen Siemens Shanghai Electric Corporation (SEC), oder die chinesische
Elektrofirma Huayi, haben sich im Lingang-Industriepark niedergelassen.
Um den Anforderungen nach einer kohlenstoffarmen Wirtschaft gerecht zu werden, setzt auch die Verwaltung des
Lingang-Industrieparks gezielt auf umweltfreundliche Energieformen.
Im
Südosten Pudongs gibt es einen künstlichen Süßwassersee, der gleich groß ist
wie der malerische Westsee in Hangzhou. Um diesen See herum ist die neue Stadt Lingang entstanden, in
welcher der Tourismus schwerpunktmäßig gefördert wird. Anstatt auf fossile
Brennstoffe setzt Lingang auf umweltfreundliche Energie wie die Sonnenenergie
oder die Geothermik. Das Regenwasser und der Abfall werden in Lingang
systematisch gesammelt und wiederverwertet. Lingang soll langfristig zu einem
Musterbeispiel grüner Stadtarchitektur werden.
Wanderarbeiter
in China: Knechte des Booms
Von
Kai Lange
Wer
zahlt den Preis für Chinas Wirtschaftswunder? Amnesty International hat den
Alltag chinesischer Wanderarbeiter dokumentiert. Die Bilanz: 200 Millionen
Menschen werden Tag für Tag betrogen und verheizt – und China riskiert seine
Zukunft.
[…] Die Menschenrechtsorganisation Amnesty
International greift in einem neuen Bericht auf viele Beispiele zurück, um die
tägliche Diskriminierung der Wanderarbeiter zu illustrieren. Das kommunistische
Regime in Peking toleriert Arbeitsbedingungen, die an die dunkelsten Stunden
des Frühkapitalismus erinnern – gleichzeitig betont Ministerpräsident Wen
Jiabao während des Volkskongresses, dass soziale Gleichheit und Gerechtigkeit
in China "bewahrt" werden müssen.
"Kosten des Wirtschaftswunders"
Der Amnesty-Bericht "China: Die menschlichen
Kosten des Wirtschaftswunders" unterstreicht jedoch: Bis dahin ist es noch
ein weiter Weg. Die Zahl der Wanderarbeiter, die vom Land in Chinas boomende
Städte sowie in die Küstenregionen ziehen, ist seit 1980 von zwei Millionen auf
rund 200 Millionen gestiegen. Bis 2015 werden es wohl 300 Millionen Menschen
sein. Beobachter sprechen von der "größten Migrationsbewegung in
Friedenszeiten".
Das Heer der billigen Arbeitskräfte hat Chinas
Aufschwung erst ermöglicht. Sie ziehen Chinas moderne Metropolen hoch und
leisten Schichtarbeit in den Fabriken an der südchinesischen Küste. Obwohl sie
die gefährlichsten und schwierigsten Arbeiten leisten, werden ihnen Grundrechte
verwehrt, betont Amnesty: Viele von ihnen seien unterbezahlt und ohne Krankenversorgung,
und ihre Kinder dürften nicht die staatlichen Schulen besuchen.
Ein Lohn von umgerechnet zwei bis drei Euro pro Tag
reicht kaum zum Überleben. Einer offiziellen Regierungsstatistik zufolge
verdienten Wanderarbeiter im Perfluss-Delta bei Hongkong im Jahr 2005
durchschnittlich 60 bis 70 Euro pro Monat, wobei die Lebenshaltungskosten in
dieser Region bei rund 80 Euro angesetzt waren. "Solch ein Einkommen
reicht für vier Schüsseln gebratene Nudeln pro Tag", lautet das Fazit der
Statistikbehörde.
In diesen Monatslohn sind alle Bonuszahlungen für
Überstunden und Feiertagsarbeit einbezogen. Denn diese sind an der
Tagesordnung: Wanderarbeiter arbeiten laut China Labor Bulletin in der
Regel zwölf bis 14 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche, haben einen Tag pro
Monat frei. Die 21-jährige Zhang, die innerhalb von vier Jahren in neun
Fabriken gearbeitet hat, beschreibt ihren Arbeitsalltag so:
"Arbeitsbeginn war jeden Morgen um 7.30 Uhr,
Schluss war frühestens um 23 Uhr. (…) Um 12 Uhr mittags gaben sie uns eine
halbe Stunde Zeit zum Essen und zum Ausruhen, aber nach dem Essen sind alle
wieder direkt an die Arbeit gegangen. Der beste Tag war Sonntag, da mussten wir
nur bis 21.30 Uhr arbeiten. Wir waren an der Grenze unserer Kräfte. Einige
wurden ohnmächtig vor Erschöpfung."
Auch Wang Yuangcheng, Mitglied des Nationalen
Volkskongresses, sieht ein wachsendes Problem auf die Regierung in Peking
zukommen. "Wanderarbeiter leben in provisorischen Unterkünften, können
sich nur das billigste Essen leisten. Sie haben keinen Versicherungsschutz und
bekommen erst mit Verspätung ihre Löhne. Von den Städtebewohnern werden sie als
Bürger zweiter Klasse angesehen", sagt Wang.
Dennoch zögert das kommunistische Regime, das Hukou-System
– eine der Grundlagen für die tägliche Diskriminierung von Millionen Menschen –
grundlegend zu reformieren.
Ohne Meldepapiere keine Rechte
Chinas Hukou-System zwingt jeden Bürger, sich
an seinem Wohnsitz registrieren zu lassen. Wer sich länger als drei Monate
außerhalb des ihm zugewiesenen Wohnsitzes aufhält, muss eine vorübergehende
Aufenthaltserlaubnis beantragen. Voraussetzungen dafür sind in der Regel ein
Arbeitsvertrag, eine Arbeitserlaubnis vom Heimatstandort sowie ein
polizeiliches Führungszeugnis - hinzu kommen Kosten für Ausstellungsgebühren
und Schmiergelder. "Die Polizei gibt die Permits nicht so einfach heraus,
man braucht gute Beziehungen (Guanxi)", zitiert der Bericht einen
Wanderarbeiter in Peking.
Da die meisten der Wanderarbeiter weder alle nötigen
Dokumente noch das Geld für solch einen "temporary permit" haben,
bleiben sie ohne Papiere und damit illegal in den Städten. Sie sind in der Regel
der Willkür ihres Arbeitgebers als "Sponsor" ausgeliefert, der um den
unsicheren Status der Arbeiter weiß und ihnen meist auch keine Arbeitsverträge
ausstellt - ein Teufelskreis.
Laut einer offiziellen Statistik des State Council
Research Center hat jeder zweite Wanderarbeiter keinen Arbeitsvertrag - doch
nach Schätzungen von Amnesty liegt die Dunkelziffer viel höher. Eine
Untersuchung im Auftrag der Nationalen Volkspartei Ende 2005 ergab, dass
weniger als 20 Prozent der chinesischen Unternehmen Arbeitsverträge nutzen. In
Suizhou City bei Hubei überprüfte die Arbeitsbehörde insgesamt 134 Unternehmen:
Nicht eines konnte Arbeitsverträge für seine Angestellten vorweisen.
[…]
"Es ist zu teuer, krank zu sein"
"Ich aß keine Krankenhausmahlzeiten, da ich
fürchtete, sie seien zu teuer. Stattdessen brachte mir meine Cousine etwas zu
essen. Nach einigen Tagen bekam ich keine Medikamente mehr, da niemand mehr
dafür bezahlte."
Der Außenseiterstatus der Wanderarbeiter schließt sie
auch aus dem Gesundheitssystem aus. Für sie ist es einfach "zu teuer,
krank zu sein", so der Titel einer Untersuchung in Peking und Nanjing. Die
meisten von ihnen sind nicht krankenversichert und begeben sich nur im
äußersten Notfall ins Krankenhaus. "Die hohen Kosten für medizinische
Versorgung und der fehlende Versicherungsschutz führen dazu, dass die meisten
Wanderarbeiter entweder sich selbst behandeln oder versuchen, so lange wie
möglich durchzuhalten", so das Ergebnis der Untersuchung.
Rund 90 Prozent der Wanderarbeiter sind nicht krankenversichert,
ergab eine Dreijahresstudie in Shanghai. Zwei Drittel aller Frauen, die
aufgrund von Komplikationen in der Schwangerschaft sterben, sind
Wanderarbeiterinnen. Die Rate der Totgeburten ist bei ihnen doppelt so hoch wie
unter den "Permanent Residents".
120 Dollar pro Tag oder Amputation
Entsprechend schlecht ist die Versorgung bei
Arbeitsunfällen. Niemand fühlt sich für die Betroffenen zuständig. Der
Amnesty-Bericht führt den Fall des Hilfsarbeiters Cha Guoqun an, der vom Land
in die Küstenstadt Hangzhou gezogen war, um dort in einer Fabrik zu arbeiten.
Als eine Schnittwunde in seinem Bein sich entzündete, ging er ins Krankenhaus.
Da er nicht krankenversichert war, stellte ihn der
Arzt vor die Wahl: Entweder 120 Dollar pro Tag für die Behandlung zu zahlen
(was mehr als sein Monatslohn war), oder sich das Bein amputieren zu lassen.
Cha hatte Glück: Eine christliche Hilfsorganisation finanzierte den Aufenthalt
in einer anderen Klinik, die sein Bein rettete.
Fehlende medizinische Versorgung ist auch deshalb ein
Risiko, weil die meisten Wanderarbeiter auf engstem Raum, in primitiven
Schlafsälen auf dem Firmengelände oder in übervölkerten Wohnungen außerhalb der
Stadt leben. In Peking zum Beispiel diente das berüchtigte "Zhejiang
Village" zeitweise als Unterkunft für 100.000 Wanderarbeiter, bevor die
Gebäude 1996 wegen Baufälligkeit abgerissen wurden.
Während sich Städtebewohner als Permanent Residents
staatliche Förderung sichern können, um Wohneigentum zu erwerben, bleibt den
Wanderarbeitern diese Möglichkeit verwehrt - selbst dann, wenn sie als Temporary
Residents ordentlich registriert sind. Selbst eine Aufenthaltserlaubnis
hebt die Diskriminierung nach Herkunft nicht auf.
Die zurückgelassenen Kinder
"Es ist hart für uns. Aber wir hatten nicht
angenommen, dass es für unsere Kinder genauso schwierig wird."
Mit diesen Worten reagierte ein chinesischer
Wanderarbeiter in Peking darauf, dass die Schule für seine Kinder im Herbst
2006 kurzerhand von den Behörden geschlossen wurde. Die Serie von
Schulschließungen in der Hauptstadt im vergangenen September verdeutlicht, dass
China auch die Zukunft der bis zu 20 Millionen Kinder von Wanderarbeitern
riskiert.
Da die meisten Wanderarbeiter nicht offiziell
registriert sind und die Schulgebühren nicht zahlen können, ist ihren Kindern
der Besuch einer staatlichen Schule in der Regel verwehrt. Es wird erwartet,
dass die Kinder weiterhin in ihrem Heimatbezirk eine Schule besuchen, auch wenn
die Eltern in die Stadt ziehen.
Oftmals greifen die Eltern zur Selbsthilfe und organisieren
vor Ort private Schulen für ihre Kinder. Doch diese werden - wie jüngst in
Peking - von lokalen Behörden wieder geschlossen, wenn sie bestimmte Auflagen
(Sportplätze, Mindestgröße von Grünflächen) nicht erfüllen.
"Wir sehen die Kinder ein- oder zweimal im
Jahr"
Viele Wanderarbeiter lassen aufgrund der Repressionen
in den Städten ihre Kinder in der ländlichen Heimat zurück und geben sie in die
Obhut von Verwandten. Eine Studie der Pekinger Renmin-Universität ergab, dass
rund 23 Millionen Kinder in Chinas ländlichen Gebieten ohne ihre Eltern
aufwachsen.
80 Prozent der Mütter, die sich als
Wanderarbeiterinnen durchschlagen, sehen ihre Kinder nur ein- oder zweimal im
Jahr, so ein weiteres Ergebnis der Studie. 12 Prozent gaben an, ihre Kinder
"alle ein bis zwei Jahre" zu sehen. Die Folgen für die geistige und
seelische Entwicklung der Kinder sind laut Amnesty-Bericht dramatisch: Die
Vorschläge der Regierung, mehr Internate zu errichten oder Eltern und Kindern
Zugang zu Videokonferenzen zu ermöglichen, werden den Verlust der Familie nicht
kompensieren.
Viele Eltern können selbst zum Neujahrsfest nicht zu
ihren Kindern zurückkehren, da ihre Arbeitgeber über den Jahreswechsel den Lohn
einbehalten. So haben sie nicht einmal Geld für die Zugfahrt nach Hause.
29. Mai 2014 17:49
Luftverschmutzung in China Land im Smog
Es atmet sich nicht gut in China: Dieser Mann aus Peking hat sogar seinem
Hund eine Maske aufgesetzt.
Chinas Straßenverkehr wächst jährlich um 20 Millionen Fahrzeuge, viele davon verpesten die Luft zum
Atmen. Nun verbannt die Regierung sechs Millionen Dreckschleudern - ein PR-Gag,
denn in Sachen Umweltschutz wären ganz andere Maßnahmen notwendig.
Die Nudelsuppe aus der Garküche hat einen giftigen Beigeschmack.
Ein vorbeidröhnender Kleinlaster mit rostigen Felgen spuckt schwarzen Staub aus
dem Auspuff. Abgas vernebelt die Plastiktische entlang der Bordsteinkante.
Nudelesser und Politiker sind gleichermaßen genervt von solchen Fahrzeugen. Sie
verderben einem die Lust auf Garküchen und schlimmer noch: Sie verpesten die
Luft zum Atmen. Deshalb verbannt die chinesische Regierung fast sechs Millionen
solcher Dreckschleudern wie den Kleinlaster aus dem Verkehr. Sie hofft, so die
Luftqualität in den Städten zu verbessern.
Doch das Verbot wird das Problem nicht lösen. Chinas
Straßenverkehr wächst jedes Jahr um mehr als 20
Millionen Fahrzeuge, Tendenz steigend. Ein paar Millionen der schlimmsten
Umweltsünder zu sperren ist gut - aber kaum mehr als ein populistischer PR-Gag.
Gegen die Luftverschmutzung helfen ganz andere Mittel, zum
Beispiel der effiziente Umgang mit Energie.
China ist nicht nur der größte
CO₂-Emittent der Welt, sondern seit vielen Jahren wohl auch der sorgloseste.
Zwar weist die Regierung auf ihren geringen Pro-Kopf-Ausstoß hin. Viele
Chancen, die Probleme zu lösen, hat China in den vergangenen Jahren allerdings
nicht genutzt, denn das Wirtschaftswachstum stand an erster Stelle.
WHO-Analyse Millionen Tote wegen Luftverschmutzung
Die Weltgesundheitsorganisation schlägt
Alarm: Sieben Millionen Menschen sterben nach einer WHO-Analyse jedes Jahr an
den Folgen der Luftverschmutzung. Das ist jeder achte Todesfall weltweit.
Der einzige Ausweg: Chinas Städte müssen schnellstmöglich
technologisch so aufgerüstet werden, dass sie Energie auf breiter Front
effizient nutzen. Gebäudedämmung, Kühlsysteme, kluge Stromnetze - all das wäre
problemlos machbar. Die Technologie ist im Land vorhanden. Doch ihr Einsatz
würde die Volksrepublik ein Vermögen kosten. Peter Lacy vom
Beratungsunternehmen Accenture beziffert das finanzielle Volumen auf mehrere
Hundert Milliarden Euro.
Der Brite sitzt vor einem
frisch gepressten Fruchtsaft. Vitamine sind gut für die Gesundheit, wenn schon
die Shanghaier Luft an diesem Vormittag den Standards der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge als ungesund eingestuft wird.
Gemeinsam mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften CAS entwickelten die
Berater von Accenture einen Index, der die Nachhaltigkeit des Wachstums in den
Millionenstädten ermittelt.
Vor allem die Metropolen
schlagen sich verhältnismäßig gut, sind aber weit davon entfernt, das gesamte
Potenzial abzurufen. "Unsere Absicht ist es, einen Wettbewerb der Städte
untereinander zu provozieren, der sich nicht nur auf reines Wachstum
beschränkt, sondern auch Nachhaltigkeit erfasst", sagt Lacy.
Die optimistischen Ziele sind
in weiter Ferne
Nur langsam ist die Dringlichkeit von drastischer
Energieeinsparung und Umweltschutz ins Bewusstsein der autoritär
regierenden kommunistischen Parteikader gerückt. 2011
verfasste der Staatsrat einen nationalen Entwicklungsplan, um Urbanisierung,
Wirtschaftswachstum, die Verwendung von Ressourcen und den Umweltschutz unter
einen Hut zu bekommen. Doch die optimistischen Ziele sind noch immer in weiter
Ferne.
Den eigenen Vorgaben des Fünfjahresplanes hinkt Peking
beim Energiesparen hinterher. Die Zeit wird knapp, nicht nur weil staatliche
Vorgaben verfehlt werden könnten, sondern auch, weil der Raubbau an der Natur
als Folge des Hyperwachstums der vergangenen drei Jahrzehnte immer mehr zutage
tritt. Auch Flüsse, Seen, Grundwasser und Ackerböden sind zu weiten Teilen
vergiftet. Die Bevölkerung wird immer wütender und schreit nach Lösungen. Jeden
Tag zählen die Behörden im ganzen Land mehrere Dutzende Proteste, die sich
ausschließlich gegen Umweltprobleme richten.
Um die Probleme zu lösen, müssen alle an einem Strang ziehen
An vollmundigen Ankündigungen hat es in China nie gemangelt. Die Umsetzung ist seit
jeher die größte Herausforderung. Denn um die Probleme zu lösen, müssen alle an
einem Strang ziehen: staatseigene Unternehmen mit ihren vielfältigen
Interessen, aber auch die Privatwirtschaft, die Konsumenten und die
unterschiedlichen Lager der Politik.
"Ein wichtiger Schritt
wären Preismechanismen, die Anreize schaffen, Energie zu sparen", sagt
Lacy. Viele Wirtschaftsunternehmen würden dann teurer, aber nachhaltiger in
neue Anlagen investieren. Kleine Schritte gibt es bereits: Seit November
vergangenen Jahres sind Firmen verpflichtet, übermäßigen CO₂-Ausstoß in Form
von Emissionskrediten zu bezahlen. Wer über seiner Quote liegt, dem geht es ans
Geld. Theoretisch.
Ob die Umsetzung in der Praxis
tatsächlich gelingt? Fraglich. Denn immer wieder drücken lokale Regierungen ein
Auge zu, wenn sie Investoren damit in ihre Region locken können. Denn der
Verkauf von Land an Firmen sowie Steuereinnahmen von örtlicher Industrie sind
meist die einzigen Einnahmen der Kommunen.
"Das Grundinteresse an
effizienter Technologie ist vorhanden, wenn man es gut vermarkten kann",
sagt Marco Abdallah von Drees & Sommer, einem Beratungsunternehmen für
nachhaltiges Wachstum. Oftmals scheitern gute Ideen und Konzepte aber am Preis,
weil den Investoren nicht einleuchten will, weshalb sie zusätzliche Kosten
stemmen sollen, wenn sie kurzfristig nicht einmal davon profitieren können. Wer
in attraktiver Lage baut, wird seine Wohnungen oder kommerziellen Gebäude so
oder so los, ob er sich nun für energieeffiziente Kühlsysteme entscheidet oder
nicht.
Unter diesen Umständen in aller
Kürze einen landesweiten Schulterschluss zu erzielen, ist umso schwieriger.
Wenn es dennoch gelingt, ist das gut für das Land und gut für die Welt. Ein
Ruhekissen wäre es aber nicht. "Energiesparende Maßnahmen können das
Wachstum der Emissionen verlangsamen. Stoppen werden sie es auf absehbare Zeit
nicht", sagt Abdallah.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen